Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Burnout, Chronic Fatigue, Long-Covid, Neurasthenie, somatoforme Störungen

Das Spektrum der Fatigue-Syndrome

Krankhafte Müdigkeit und ­Erschöpfung

Im Rahmen der Corona-Pandemie hat der Begriff des „Long-Covid“ oder des „Chronic Fatigue nach Coronainfektion“ eine große fachliche wie auch mediale Aufmerksamkeit erfahren (Baig 2020; Venkatesan 2021). Laien könnten den Eindruck gewinnen, dass ein völlig neues Krankheitsbild auf den Plan getreten ist. Aus fachlicher Perspektive ist allerdings zu sagen, dass Müdigkeits- und Erschöpfungssyndrome seit jeher in der täglichen ärztlichen Praxis eine große Rolle spielen. Es gibt eine Reihe von Begriffen, die in unterschiedlichem Kontext entstanden sind und genutzt werden, auf unterschiedliche ätiologische Konzepte Bezug nehmen, im Kern jedoch die gleichen Syndrome beschreiben. So wird laiensprachlich beispielsweise von Müdigkeit, Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Vitalitätsverlust, Verlust der Dynamik und Antriebslosigkeit gesprochen. Aus somatomedizinischer Perspektive wird bevorzugt der Begriff „Chronic Fatigue“ verwendet und ätiologisch linear eindimensional mit neurobiologischen Prozessen im Kontext somatischer Erkrankungen in Zusammenhang gebracht. Aus psychia­trisch-psychosomatischer Sicht werden Begriffe wie Neurasthenie, somatoforme Störung oder Anpassungsstörung benutzt, die eine Wechselwirkung von biologisch-konstitutionellen, psychologischen Vulnerabilitäts- beziehungsweise Resilienzfaktoren und Kontextanforderungen implizieren. Im Folgenden soll eine Übersicht über das breite Spektrum der Fatigue-Syndrome gegeben werden.

Ursachen von Fatigue

Viele somatische Erkrankungen gehen mit einer Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens und auch mit Müdigkeit, Abgeschlagenheit oder Erschöpfung einher (Shafran 1991; Afari u. Buchwald 2003). Dies gilt für viele somatische Erkrankungen, wie beispielsweise Krebserkrankung, Herzinsuffizienz oder Anämie, und nicht zuletzt virale Infektionen, von der banalen Erkältung, über die Grippe bis zur Covid-Infektion, wobei die Erschöpfungssyndrome länger dauern können als die akute Infektionsphase. Auch Medikamente wie Antibiotika, Antidepressiva, Antihypertensiva, Chemotherapie, Radiotherapie etc. können zu Fatigue-Syndromen führen. Einige Autoren sehen „Chronic Fatigue“ in direktem Zusammenhang mit einer „myalgischen Enzephalomyelitis“ oder auch der „Fibromyalgie“ (Young u. Redmond 2007; Brurberg et al. 2014), ohne dass es dafür tragende Belege gibt. Funktionelle Veränderungen im Immunsystem können ebenfalls als Erklärungshypothesen dienen.

Erschöpfungssyndrome und Verlust der Dynamik finden sich regelhaft bei psychischen Störungen (Manu et al. 1988). Dies gilt für depressive und psychoorganische Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, einen Teil der Angststörungen, psychoreaktive Störungen sowie Anorexie. Schließlich gibt es auch eine Reihe von psychischen Störungen, die mit Erschöpfung, Müdigkeit und Antriebsdefizit als Leitsymptom einhergehen. Dazu gehören Schlafstörungen, Neurasthenie, einige somatoforme Störungen, asthenische sowie passiv-aggressive Persönlichkeitsstörungen.

Geht man davon aus, dass etwa 20 % der Bevölkerung unter psychischen Erkrankungen leiden und viele weitere Millionen unter einschlägigen körperlichen Erkrankungen, dann ist bei vorsichtiger Rechnung davon auszugehen, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung unter manifesten Einschränkungen der Vitalität, der Kraft, der Dynamik, der Durchhaltefähigkeit beziehungsweise unter Erschöpfung, Müdigkeit und Belastungs­intoleranz leiden. Allein die Zahl der Schlafstörungen betrifft mehr als 10 % der Bevölkerung (Heeb u. Fiechter 2021).

Gesunde Müdigkeit und subjektive Verarbeitung von Fatigue

Unabhängig von einer Krankheit gehören Müdigkeit, Erschöpfung, Überforderungsgefühle, Antriebslosigkeit, Schlappheit, Gefühl des Ausgebranntseins, Lustlosigkeit, „kein Bock“ oder Faulheit zum normalen menschlichen Leben. Wer schlecht schläft, einen unklugen Tagesrhythmus pflegt, sich zu viel auflädt, muss auch mit Erschöpfungsgefühlen rechnen (Linden 2018).

Ein wichtiges Element in der Differenzialdiagnostik und Bewertung von Fatigue-Syndromen ist die subjektive Verarbeitung. Wenn eine entsprechende Motivation oder „Willensanstrengung“ (Landolt 2003) vorliegt, dann kann Müdigkeit „überspielt“ werden. Aktivität ist partiell inkompatibel mit Müdigkeit. In der Psychotherapie spielen daher Methoden des „Aktivitätsaufbaus“ eine wichtige Rolle in der Behandlung von Erschöpfungssyndromen (Kanter et al. 2010).

Von Bedeutung ist auch die Fixierung der eigenen Aufmerksamkeit auf die eigene Befindlichkeit. Psychologisch ist das Konzept der Lage-Handlungs-Orientierung beschrieben worden (Heckhausen u. Heckhausen 2006). Handlungsorientierte Menschen sind in ihrer Aufmerksamkeit und Motivationslage auf Ziele und Aktionen konzentriert. Die Vertiefung in eine Aufgabe führt dazu, dass das eigene Binnenerleben in den Hintergrund tritt und nicht mehr wahrgenommen wird. Menschen mit einer ausgeprägten Lageorientierung sind hingegen solche, die sich schon morgens beim Blick in den Spiegel die Frage stellen „Wie geht es mir heute?“ und damit subjektives Leiden induzieren. Es kann ein Teufelskreis entstehen. Die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die eigene Befindlichkeit verschlechtert die Wahrnehmung des eigenen mentalen und körperlichen Befindens. Das führt dann zu einer verstärkten besorgten Selbstbeobachtung, was wiederum zu einer Einschränkung der Aktivität und zu Schonhaltungen führt und damit zu einer weiteren Reduktion der Vitalität durch Trainingsverlust mit weiterer Verstärkung der psychosomatischen Beschwerden.

Ein weiterer wichtiger Faktor in der pathogenen Entwicklung von Müdigkeits- und Erschöpfungssyndromen ist, dass Unerklärtes zwingend Angst auslöst, das heißt, psychologisch gesprochen, ein „unbedingt angstauslösender Stimulus“ ist (Wright et al. 2016). Wenn also jemand beginnt, seinen eigenen Binnenzustand zu beobachten und dann auf Unerklärtes stößt, dann entsteht Angst. Nun gibt es aber bei den Fatigue-Syndromen keine klare Ursache. Um die Angst abzubauen, kann es zur Inanspruchnahme ärztlicher diagnostischer und therapeutischer Leistungen führen, mit der Gefahr, dass „etwas gefunden wird“ oder Allgemeinsymptome nun medizinisch schwerwiegend gedeutet werden, mit der Folge einer „Nocebo-Reaktion“ und weiteren Beschwerdeaggravationen (Colloca u. Barsky 2020). Eine Coronainfektion bietet ein gutes Erklärungsmuster, gerade auch bei der öffentlichen Diskussion dieses Themas, ohne dass dies eine substantielle Ursache sein muss.

Des Weiteren spielen auch Rahmenbedingungen eine Rolle. Müdigkeit, Erschöpfungs- und Überforderungsgefühle können allein schon beim Gedanken daran entstehen, dass bei der Arbeit Schwierigkeiten, Konflikte oder ungeliebte Anforderungen warten und die Arbeit wird weniger als Lust denn als Belastung erlebt. Der Begriff „Burnout“ impliziert eine solche arbeitsbezogene Lustlosigkeit (Burisch 2014). Noch komplexer wird dieser Zusammenhang, wenn Überforderungsgefühle „medikalisiert“ werden (Schneider 2013), darauf eine Arbeitsunfähigkeit oder sogar Erwerbsminderung attestiert oder sonstige materielle oder immaterielle Vorteile erreicht werden.

Schließlich unterliegen Diagnosen und speziell Fatigue-Klagen immer auch Moden oder kulturellen Einflüssen. So wurde der Begriff Neurasthenie im 19. Jahrhundert von dem New Yorker Arzt Beard (1869) eingeführt, als Form einer „nervösen Erschöpfung“ in Folge des zunehmenden Straßenlärms und der Alltagshektik oder auch speziell als Erkrankung von Frauen, die sich dem Stress des Zeitungslesens aussetzten. Bis vor einigen Jahren war Neurasthenie die häufigste Diagnose in China als Ausdruck von subjektivem Leiden in Folge eines engagierten Einsatzes für die Nation (Xiao et al. 1989). In diesem Sinne ist auch Burnout eine geradezu ehrenhafte Störung, weil sie zeigt, dass sich Betroffene engagiert haben (Hillert u. Marwitz 2006; Kaschka et al. 2011; Berger et al. 2012).

Diagnostik bei Fatigue-Syndromen

Bei der geschilderten Vielfalt der Fatigue-Syndrome stellen sich schwierige differenzialdiagnostische Fragen:

  • Liegt eine somatische Erkrankung vor, die mit einer neurasthenischen Symptomatik einhergehen kann? Zu berücksichtigen sind dabei auch die vielfältigen primären und sekundären Schlafstörungen, seien es Störungen der Schlafarchitektur, Apnoe- oder Restless-legs-Syndrome (Linden et al. 2016). Wenn einschlägige somatische Probleme vorliegen, dann ist das allein allerdings noch kein Beleg für eine kausale Beziehung. Für eine rein somatisch bedingte Erschöpfbarkeit spricht ein nüchterner, nicht aggravierender Beschwerdevortrag.
  • Eine somatisch verursachte Erschöpfbarkeit, zum Beispiel nach Coronainfektion oder Herzinfarkt, kann unabhängig von der Primärerkrankung auch eine Behandlungsfolge sein. So führt eine längere Bettlägerigkeit und Immobilisierung zwingend zu einem Verlust der körperlichen Kraft und benötigt Monate zum Wiederaufbau der Muskulatur und körperlichen Fitness (Steigele 2020).
  • Von Bedeutung ist im Weiteren die Krankheitsverarbeitung. Krankheit erfordert immer eine Anpassung an vorliegende Einschränkungen, eine Mitarbeit bei erforderlichen Behandlungen, eine Toleranz gegenüber Beschwerden. Wenn dies die Betroffenen überfordert, dann kann es zu negativen Wechselwirkungen kommen. Dann ist von „Verhaltensauffälligkeiten bei körperlichen Störungen“ (ICD-10 F50-59) zu sprechen. Zu den Problemen mit der Krankheitsverarbeitung gehört auch, dass Krankheit regelhaft verunsichert. Selbst nach überstandener Krankheitsphase kann eine verstärkte Selbstbeobachtung und Verunsicherung durch körperliches Empfinden entstehen. Es kann mit und ohne medizinisch zu diagnostizierender Krankheit zu einer „pathologischen Realangst“ oder Somatisierungsstörung kommen, das heißt einer verunsicherten verstärkten Selbstbeobachtung und dysfunktionalen Reaktion in der Vorbeugung wie Behandlung von Körperbeschwerden (Linden et al. 2008; Daniels et al. 2020). Diese Störungen (ICD-10 F45.0) sind wesentlich auch durch die Beeinträchtigung des Vitalitätserlebens und multiple unspezifische Körpersymptome gekennzeichnet, die typischerweise unter Leistungsanforderung verstärkt werden (Roenneberg et al. 2020). Wenn Betroffene schließlich zu der Überzeugung gekommen sind, „ihre“ Krankheit diagnostiziert zu haben, dann kann sich eine hypochondrische Störung entwickeln (ICD-10 F45.2). Die Patientinnen und Patienten wissen nun ganz genau, was sie haben, wo es herkommt und was zu tun ist, zum Beispiel Folge falscher Ernährung, Sick-Building-Syndrom, Elektrosmog, Arbeitsüberlastung und Berufskrankheit, Long-Covid, etc. (Nissen 2015; Abramowitz u. Braddock 2010).

    Primär psychische Störungen mit Fatigue-Syndromen sind nach der jeweiligen Psychopathologie zu diagnostizieren. So muss bei einer depressiven Störung (ICD-10 F30-39) ein anhedon-depressiver Affekt vorliegen (Linden 2017), in Abgrenzung zu Niedergeschlagenheit, schlechter Stimmung, Missmut, Verzweiflung usw. Bei einer Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60-69) ist eine Symptomatik über die Lebensspanne nachzuweisen, was auch für die Psych­asthenie gilt (ICD-10 F48.8). Bei psychoorganischen Störungen (ICD-10 F 00-09) sind typische Zusatzsymptome zu fordern, wie beispielsweise Gedächtnisprobleme. Bei Anpassungsstörungen (ICD-10 F43.2) liegt eine passagere dysfunktionale Bewältigung von besonderen, wenn auch lebensüblichen Belastungen vor. Es gibt des Weiteren auch Krankheiten, die durch das Leitsymptom Erschöpfbarkeit und Leistungsinsuffizienz gekennzeichnet sind. Dazu gehört die „Neurasthenie (ICD-10 F48.0)“. Sie ist gekennzeichnet durch die Klage über vermehrte Müdigkeit nach geistigen Anstrengungen, verbunden mit reduzierter Effektivität bei der Bewältigung täglicher Aufgaben, oder auch dem Gefühl körperlicher Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung, gegebenenfalls begleitet von muskulären und anderen Schmerzen und der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Hinzu kommen typischerweise allgemeine Unsicherheit, Sorge über abnehmendes geistiges und körperliches Wohlbefinden, Reizbarkeit, Freudlosigkeit, Schlafstörungen. Die bereits angesprochenen Somatisierungsstörungen und hypochondrischen Störungen kommen auch als eigenständige psychische Störungen vor, ohne jeglichen Bezug zu einer körperlichen Problematik (ICD-10 F45.0-45.9).

    „Gesundes Leiden“ (Linden 2013, 2018) ist zu diagnostizieren bei unkluger Lebensführung. Im ICD-10 gibt es dafür die Z-Codes, um Fälle von Inanspruchnahme des Gesundheitswesens zu verschlüsseln, ohne dass eine Krankheit vorliegt. Beispiele sind „Z 56, Probleme mit Bezug auf das Berufsleben“ (z. B. „schwierige Arbeitsbedingungen“), „Z 63, Probleme mit Bezug auf den engeren Familienkreis“ (z. B. „Probleme in der Partnerschaft“) oder „Z 73, Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ (z. B. „Burnout“). Als sonstige Verschlüsselung ohne ätiologischen Bezug steht auch im Kapitel „Allgemeinsymptome“ im ICD-10 die Kategorie „R53, Unwohlsein und Ermüdung“ zur Verfügung.

    Es gibt eine Reihe von standardisierten Skalen für Burnout, Fatigue, Schwächegefühle und psychosomatisch-neurasthenische Beschwerden, sei es global oder für bestimmte Patientengruppen wie beispielsweise nach zerebralem Insult (Micklewright et al. 2017; Williams 2017; Patterson et al. 2018; Ozyemisci-Taskiran 2019). Dies sind unspezifische Klageskalen, denen keine differenzialdiagnostische Validität zukommt. Es empfiehlt sich jeweils eine Betrachtung des Antwortprofils, um einen Eindruck vom Klageverhalten und den subjektiv im Vordergrund stehenden Probleme zu bekommen.

    Therapie von Fatigue-Syndromen

    Die Behandlung von Fatigue-Syndromen gehört zu den schwierigen Themen in der Medizin. Das erste Problem ist die therapeutische Beziehung (Geraghty u. Blease 2019). Fatigue ist ein ausschließlich subjektives Phänomen, das das Gegenüber hilf- und ratlos lässt. Hinzu kommt die vorbeschriebene Vielfalt kausaler, pathoplastischer und aufrechterhaltender Faktoren. Die Betroffenen sind oft sehr klagsam, was beim Gegenüber Irritation auslöst. Es kommt nicht selten zu interaktionellen Störungen. Dies gilt erst recht, wenn die Betroffenen aus ihrem Zustand weitreichende Ansprüche ableiten und der Eindruck eines Krankheitsgewinns entsteht mit Forderung nach Schonung, Rücksichtnahme, Veränderungen in der Partnerschaftsrolle, Rückzug am Arbeitsplatz, bis hin zu Arbeitsunfähigkeitsattesten und Berentung. Menschen mit Chronic Fatigue sind nicht selten ausgesprochen kämpferisch und sehr aktiv, wenn es um die Präsentation ihres eigenen Leidens und die Einforderung von speziellen Therapien und Rechten geht.

    Die Hilflosigkeit der Helfenden gegenüber Fatigue-Syndromen wird noch dadurch erhöht, dass es keine wirklich wissenschaftlich solide belegten Therapiemöglichkeiten gibt. Eine Pharmakotherapie gibt es nicht, beziehungsweise sogenannte Roborantika
    und Analeptika können nebenwirkungsträchtig sein (Castro-Marrero et al. 2017; Hardy 2009).

    Bezüglich der Beratung und Psychotherapie der Erkrankten scheiden sich die Geister (Otto u. Linden 2017; Hartlieb 2021). Eine Gruppe empfiehlt Schonung, um eine Überforderung zu vermeiden, was zu einer Verschlimmerung und Chronifizierung führen könne. Dagegen steht die Empfehlung, dass Schonung zu einer weiteren Herabsetzung der Leistungsfähigkeit und damit einer Verschlimmerung der Symptomatik führe, so dass ein systematisches Training und ein Aktivitätsaufbau erforderlich seien. Die Diskussion erinnert an die Auseinandersetzung um die Frage, ob man Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt wochenlange Bettruhe mit Schonung verordnen oder vom ersten Tag an Fitnesstraining verordnet werden müsse. Sorgfältig durchgeführte kontrollierte Studien wären dringend erforderlich.

    In jedem Fall ist die Verbesserung der Krankheitsverarbeitung ein wichtiges Ziel (Sharpe et al. 2015; Knoop et al. 2008). Ansatzpunkte sind beispielsweise die Analyse und Modifikation dysfunktionaler Kognitionen (z. B. idiosynkratische Krankheitserklärungen, Entkatastrophisierung und Reduktion von Angstkognitionen), die Verbesserung des Interaktionsverhaltens im familiären wie beruflichen Kontext, die Erhöhung der Symptom- und Leidenstoleranz, die Aufrechterhaltung beziehungsweise Erhöhung eines angemessenen Aktivitätsniveaus, die Vorbeugung einer Schädigung durch Schonung und die Unterstützung bei der Inanspruchnahme des medizinischen Hilfesystems mit Schutz vor Noceboeffekten. Die Behandlung von Fatiguesyndromen ohne eine biopsychosoziale beziehungsweise psycho­somatische Perspektive greift auf jeden Fall zu kurz.

    Beurteilung der Leistungsfähigkeit

    Fatigue-Syndrome gehen immer mit der Klage einher, nicht mehr leistungsfähig zu sein. Beim Burnout-Syndrom kommt explizit die Klage hinzu, von der Arbeit überfordert zu sein. Betroffene kommen häufig mit der Forderung, dass ihnen eine Arbeitsunfähigkeit attestiert wird.

    Die Feststellung der Leistungsfähigkeit ist eine gutachterliche Aufgabe (Linden 2016). Das Verlangen der Betroffenen nach einem Arbeitsunfähigkeitsattest oder gar einer Berentung ist kein tragender Grund. Auch die Art und das Ausmaß der Beschwerden sind nicht entscheidungsrelevant. Es muss eine Beurteilung der Fähigkeiten beziehungsweise Unfähigkeiten erfolgen (Widder et al. 2019). Die Beurteilung des Grades der Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit erfolgt „kontextadjustiert“, das heißt unter der Beantwortung der Frage, wie viel Wachheit, Konzentration oder Durchhaltefähigkeit in einem bestimmten Umfeld benötigt werden und wie der Person-Environment-Fit aussieht. Dabei gilt zum einen auch, dass der Arbeitgeber keinen Anspruch auf perfekte Beschäftigte hat und sich passager oder dauernd auch mit einer gewissen Leistungsreduktion abfinden muss. Zugleich gilt hinsichtlich der Betroffenen, dass eine „zumutbare Willensanstrengung“ erwartet werden kann.

    Schlussfolgerung

    Fatigue ist ein Leitsymptom mit vielfältigen Ursachen und Begleitstrukturen. Wegen der Heterogenität der Fatigue-Syndrome kann es keine allgemeingültigen Leitlinien zum Umgang mit dem Problem beziehungsweise den Betroffenen geben. Stattdessen ist auf Seiten der Helfenden ein differenziertes Wissen erforderlich, das personzentriert und individualisiert umgesetzt werden
    muss.

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Abramowitz JS, Braddock A: Hypochondriasis and Health Anxiety. Bern: Hogrefe, 2010.

    Afari N, Buchwald D: Chronic fatigue syndrome: a review. Am J Psychiatry 2003; 160: 221–236.

    Baig AM: Chronic COVID Syndrome: Need for an appropriate medical terminology for Long-COVID and COVID Long-Haulers. J Med Virol 2021; 93: 2555–2556.

    Beard G: Neurasthenia, or nervous exhaustion. Boston Med Surg J 1869; 80: 217–221.

    Berger M, Linden M, Schramm E, Hillert A, Voderholzer U, Maier W: Burnout. Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Berlin: DGPPN, 2012.

    Burisch M: Das Burnout-Syndrom. Berlin, Heidelberg: Springer, 2014.

    Brurberg KG, Fønhus MS, Larun L et al.: Case definitions for chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis (CFS/ME): a systematic review. BMJ Open 2014; 4: e003973.

    Castro-Marrero J, Sáez-Francàs N, Santillo D, Alegre J: Treatment and management of chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis: all roads lead to Rome. Br J Pharmacol 2017; 174: 345–369.

    Colloca L, Barsky AJ: Placebo and nocebo effects. N Engl J Med 2020; 382: 554–561.

    Daniels J, Parker H, Salkovskis PM: Prevalence and treatment of Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis and co-morbid severe health anxiety. Int J Clin Health Psychol 2020; 20: 10–19.

    Geraghty KJ, Blease C: Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome and the biopsychosocial model: a review of patient harm and distress in the medical encounter. Disabil Rehabil 2019; 41: 3092–3102.

    Hardy SE: Methylphenidate for the treatment of depressive symptoms, including fatigue and apathy, in medically ill older adults and terminally ill adults. Am J Geriatric Pharmacother 2009; 7: 34–59.

    Hartlieb MC: Psychotherapeutisch orientierte Behandlungen beim Chronic Fatigue Syndrome. Psychotherapie-Wissenschaft 2021; 11: 51–56.

    Heeb P, Fiechter R: Schlafstörungen: Wegleitung für die Hausarztpraxis.  Praxis 2021; 110: 991–997.

    Heckhausen J, Heckhausen H (Hrsg.): Motivation und Handeln. Berlin: Springer, 2006.

    Hillert A, Marwitz M: Die Burnout-Epidemie oder brennt die Leistungsgesellschaft aus? München: Beck, 2006.

    Kaschka WP, Korczak D, Broich K: Modediagnose Burn-out. Dtsch Ärztebl 2011; 108: 781–787.

    Knoop H, Stulemeijer M, de Jong LW, Fiselier TJ, Bleijenberg G: Efficacy of cognitive behavioral therapy for adolescents with chronic fatigue syndrome: long-term follow-up of a randomized, controlled trial. Pediatrics 2008; 121: e619–e625.

    Kanter JW, Manos RC, Bowe WM, Baruch DE, Busch AM, Rusch LC: What is behavioral activ ation?: A review of the empirical literature. Clin Psychol Rev 2010; 30: 608–620.

    Landolt H: Die Rechtsvorstellung der zumutbaren Willensanstrengung im Sozialversicherungsrecht (No. 23, S. 141–212). Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis IRP-HSG, 2003.

    Linden M: Diagnose „Gesundheit“. Psychotherapeut 2013; 58: 249–256.

    Linden M: Fähigkeitsbeeinträchtigungen und Teilhabeeinschränkungen. Erfassung und Quantifizierung in der sozialmedizinischen Beurteilung psychischer Störungen. Bundesgesundheitsblatt 2016; 59: 1147–1153.

    Linden M: Depression oder gesundes Leiden? Die Bedeutung der Psychopathologie in der Diagnostik psychischer Erkrankungen. Psychiatrie 2017; 14: 136–142.

    Linden M: Gesunde Müdigkeit. Ärztliche Psychotherapie 2018; 13: 182–186.

    Linden M, Dietz M, Veauthier C, Fietze I: Subjective sleep complaints indicate objective sleep problems in psychosomatic patients: A prospective polysomnographic study. Nature Sci Sleep 2016; 8: 291–295.

    Linden M, Dirks S, Glatz J: Die „Pathologische Realangst “am Beispiel kardiovaskulärer Erkrankungen. Psychosom Konsiliarpsychiatr 2008; 2: 248–254.

    Manu P, Matthews DA, Lane TJ: The mental health of patients with a chief complaint of chronic fatigue: a prospective evaluation and follow-up. Arch Int Med 1988; 148: 2213–2217.

    Micklewright D, Gibson ASC, Gladwell V, Al Salman A: Development and validity of the rating-of-fatigue scale. Sports Med 2017; 47: 2375–2393.

    Nissen B: Hypochondrie. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2015.

    Otto J, Linden M: Regeneration orientation is better than resistance orientation in behaviour activation. Results from an intervention study with psychosomatic patients. Psychiatria Danubina 2017; 29: 201–206.

    Ozyemisci-Taskiran O, Batur EB, Yuksel S, Cengiz M, Karatas GK: Validity and reliability of fatigue severity scale in stroke. Topics Stroke Rehabil 2019; 26: 122–127.

    Patterson PD, Weaver MD, Fabio A et al.: Reliability and validity of survey instruments to measure work-related fatigue in the emergency medical services setting: a systematic review. Prehospital Emergency Care 2018; 22 (Suppl 1): 17–27.

    Roenneberg C, Hausteiner-Wiehle C, Henningsen P: „Funktionelle Körperbeschwerden “: Klinisch relevante Leitlinien-Empfehlungen. PSYCH up2date 2020; 14: 35–53.

    Schneider W: Medikalisierung sozialer Prozesse. Psychotherapeut 2013; 58: 219–236.

    Shafran SD: The chronic fatigue syndrome. Am J Med 1991; 90: 730–739.

    Sharpe M, Goldsmith KA, Johnson AL, Chalder T, Walker J, White PD: Rehabilitative treatments for chronic fatigue syndrome: long-term follow-up from the PACE trial.  Lancet Psychiatry 2015; 2: 1067–1074.

    Steigele W: Bewegung, Mobilisation und Positionswechsel in der Pflege.Berlin, Heidelberg: Springer, 2020.

    Venkatesan P: NICE guideline on long COVID. Lancet Respir Med 2021; 9: 129.

    Widder B, Schneider W et al.: Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen. Teil I: Gutachtliche Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen. Teil II: Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit. Teil III: Begutachtung bei Kausalitätsfragen im Sozial-, Zivil- und Verwaltungsrecht. AWMF-Register Nr. 051-029, 2019.

    Williams N: The Borg rating of perceived exertion (RPE) scale. Occup Med 2017; 67: 404–405.

    Wright KD, Lebell MAA, Carleton RN: Intolerance of uncertainty, anxiety sensitivity, health anxiety, and anxiety disorder symptoms in youth. J Anxiety Disord 2016; 41: 35–42.

    Xiao S-F, Yan H-Q, Linden M, Korten A, Sartorius N: Recent developments in the study of prevalence and phenomenology of neurasthenia in general health care across cultures. Hong Kong J Psychiatry 1998; 8: 24–29.

    Young JL, Redmond JC:Fibromylagia, chronic fatigue, and adult attention deficit hyperactivity disorder in the adult: a case study. Psychopharmacol Bull 2007; 40: 118–126.

    doi:10.17147/asu-1-216967

    Kernaussagen

  • Müdigkeit, Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Vitalitätsverlust, Verlust der Dynamik, Antriebslosigkeit, Überforderungsgefühle, Schlappheit, Gefühl des Ausgebranntseins, Lustlosigkeit, „kein Bock“ oder Faulheit sind subjektive Beschwerden, die sich nur bedingt objektivieren lassen.
  • Diese Beschwerden gehören zum normalen menschlichen Leben und haben soweit keinen Krankheitswert; sie können aber auch Symptome einer Vielzahl von Erkrankungen sein, wie zum Beispiel virale Infekte, Tumorerkrankungen, Stoffwechselstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Medikamentennebenwirkungen oder unterschiedlichste psychische Störungen, was schwierige differenzialdiagnostische Fragen aufwerfen kann.
  • Es gibt keine spezifische Primärbehandlung dieser Beschwerden. Die Therapie muss sich daher einerseits auf die Behandlung der Ursache beziehen. Entscheidend ist die Beschwerdenbewältigung. Dazu gehört die Modifikation dysfunktionaler Kognitionen, die Verbesserung des Interaktionsverhaltens im familiären wie beruflichen Kontext, die Erhöhung der Symptom- und Leidenstoleranz, die Aufrechterhaltung beziehungsweise Erhöhung eines angemessenen Aktivitätsniveaus, die Vorbeugung einer Schädigung durch Schonung und die Unterstützung bei der Inanspruchnahme des medizinischen Hilfesystems mit Schutz vor Noceboeffekten.
  • Die sozialmedizinische Bedeutung von Fatigue-Syndromen hängt nicht von der vorgetragenen subjektiven Klage ab, sondern davon, ob die Leistungsanforderungen am Arbeitsplatz nach gutachterlicher Einschätzung erfüllbar sind.
  • Kontakt

    Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Michael Linden
    Charité Universitätsmedizin Berlin; Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik; Hindenburgdamm 30; 12200 Berlin

    Foto: privat

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.